EGMR entzieht sich entgegen seiner Rechtsprechungslinie einer inhaltlichen Prüfung
Hannes Tretter
Der von uns beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingebrachten und nun zurückgewiesenen Beschwerde liegen Klagen der „Area 47“ und der Tiroler Volkspartei zugrunde,die sich gegen die von Herrn Wilhelm, dem Beschwerdeführer (Bf), vorgenommenen Umgestaltung des Logos der Area 47 in der per Collage angedeuteten Form eines Hakenkreuzes und gegen die von ihm geäußerte Kritik wenden,
• dass in der (von der Tiroler Volkspartei als Regierungspartei aus Steuergeldern geförderten) „Area 47“ Rockgruppen auftreten, die gewaltverherrlichende Texte singen und denen ein Naheverhältnis zu rechtsradikalem, nationalsozialistischem Gedankengut nachgewiesen werden kann,
• sowie dass die Tiroler Volkspartei im Verlauf eines Landtagswahlkampfes ihren außerordentlichen Parteitag 2013 im „Ötztal Dome“ der „Area 47“ abgehalten hat.
Die österreichischen Gerichte haben den auf Unterlassung und Haftung gerichteten Klagen ohne eine Prüfung der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers Folge gegeben. Dagegen richtete sich Wilhelms Beschwerde an den EGMR, in der er unter Verweis auf zahlreiche Urteile des EGMR die Verletzung seines Rechts auf Meinungsfreiheit gemäß Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geltend machte.
Völlig überraschend hat der EGMR die Beschwerde jedoch nicht einmal inhaltlich in Prüfung gezogen, sondern deren Behandlung abgelehnt, wobei er – einer seit einiger Zeit üblichen, aber vielfach kritisierten Praxis folgend – die geradezu eine Missachtung aller davon betroffenen Beschwerdeführer darstellt – keine Begründung für seine Entscheidung lieferte.
So bleibt es völlig unklar, ob die Zurückweisung der Beschwerde aus formalen Gründen oder aber deshalb erfolgte,
• weil sie der EGMR „für unvereinbar mit der Konvention“ oder „für offensichtlich unbegründet“ oder „für missbräuchlich“ hält, oder
• weil er der Ansicht ist, dass Herrn Wilhelm „kein erheblicher Nachteil entstanden“ wäre.
Abgesehen von diesem ärgerlichen Begründungsmangel ist es unverständlich, dass der EGMR angesichts seiner bisherigen Rechtsprechung nicht in eine inhaltliche Prüfung der Beschwerde eingetreten ist. Dies aus folgenden Gründen:
• Mit der Umgestaltung des Logos in der per Collage angedeuteten Form eines Hakenkreuzes und der Kritik an den gesungenen Texten hat der Beschwerdeführer einen Beitrag zur politischen Debatte geliefert. Tatsache ist, dass das Konzert in der Area 47 stattfand und das Unternehmen und die ÖVP Tirol damit eine Sorgfaltspflicht hinsichtlich der Art der Veranstaltung traf. Darauf gründete sich seine politisch begründete Kritik in Form eines nach der EGMR-Rechtsprechung freien „Werturteils“. Im Urteil
Oberschlick gegen Österreich Nr. 2 (1997) stellte der EGMR klar, dass in einer politischen Debatte sogar die Bezeichnung eines Politikers in der Titelzeile eines Artikels als „Trottel“ zulässig ist, wenn im Text selbst die Verwendung dieses beleidigenden Wortes näher begründet wird und die Umstände erläutert werden, die zu seiner Verwendung geführt haben, da jeder Sachverhalt aus konventionsrechtlicher Sicht einer Gesamtbetrachtung zu unterziehen ist.
• Damit spricht der EGMR – so wie die österreichischen Gerichte – dem Beschwerdeführer die Freiheit ab, im Internet am politischen Diskurs teilzunehmen und mittels eines sozialen Mediums die Funktion eines „public watchdog“, eines „öffentlichen Wachhundes“, wahrzunehmen. Denn auch die Zivilgesellschaft hat das Recht, Themen von öffentlichem Belang zu diskutieren, wie dies der EGMR in seinem Urteil
Társaság a Szabadságjogokért gegen Ungarn (2009) zum Ausdruck brachte. Nach diesem Urteil sind auch private Akteure, die keine Berufsjournalisten sind, durch die Meinungs- und Medienfreiheit geschützt.
• Ohne den Sachverhalt in seiner Gesamtheit zu betrachten, nahmen die österreichischen Gerichte einen "Wertungsexzess“ an und erklärten die Verwendung des Hakenkreuz-Symbols für weder erforderlich noch zulässig, ohne zu prüfen (wie dies der EGMR normalerweise fordert), ob es in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich ist, die Meinungsfreiheit zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer zu beschränken. Das politisch brisante Thema berechtigte den Beschwerdeführer zu einer möglicherweise als beleidigend, schockierend und verstörend empfundenen Kritik durch die Hakenkreuz-Collage, zumal sie auch gegenüber einer politischen Partei geäußert wurde. Obgleich der EGMR im Fall
Andreas Wabl gegen Österreich (2000) die Verwendung des Ausdrucks „Nazi“ als gerechtfertigt angesehen hat, entzog er sich bedauernswerterweise im Fall des Beschwerdeführers entgegen seiner Rechtsprechungslinie einer inhaltlichen Prüfung seines Falls.
Wir, Wilhelms Rechtsvertreter und –berater, werden versuchen, Hinweise zu erhalten, was den EGMR veranlasste, der – nach seinen eigenen Worten – in einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbaren Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit keine Chance zu geben.
Abschließend möchte ich festhalten, dass die Zurückweisung der Beschwerde für mich völlig unverständlich ist. Zwar wissen wir, dass der EGMR enorm überlastet ist und versucht, seine Rückstände unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten kontinuierlich und rasch aufzuarbeiten, aber dass davon auch diese Beschwerde betroffen ist, ist ernüchternd und aus menschenrechtlicher Sicht in hohem Maße bedenklich. Mit einer Zurückweisung der Beschwerde habe ich angesichts der großen Sensibilität, die der EGMR vergleichbaren politisch relevanten Fällen bisher entgegengebracht hat, nicht gerechnet, sonst hätte ich von ihrer Einbringung abgeraten.
Hannes Tretter ist a.o. Univ.-Prof in Wien und Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte